Rund um die Insel
Anleitung zum Wahnsinn: Eine heitere Feldstudie zum Sylter Sturmspaziergang

Man sitzt im behaglichen Strandhafer auf Sylt, die Heizung summt leise, der Milchschaum auf dem Cappuccino bildet perfekte Wölkchen. Draußen hingegen spielt sich ein Szenario ab, das man treffend als „Wettereskalation“ bezeichnen könnte. Der Regen hat die Vertikale längst aufgegeben und praktiziert einen aggressiven Horizontalangriff, der Wind scheint persönliche Rache an allem zu nehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Es ist das ideale Wetter, um ein gutes Buch zu lesen, einen Mittagsschlaf zu halten oder über die Sinnhaftigkeit des Lebens zu philosophieren. Doch für eine bemerkenswerte Spezies von Urlaubern und Einheimischen ist es das ideale Wetter, um spazieren zu gehen. Dies ist eine heitere Feldstudie über jene faszinierenden Wesen: die Sylter Sturmwanderer.
Die Beobachtung beginnt mit dem Moment der Entscheidung. Man kann es in ihren Augen sehen, wenn sie am Fenster stehen. Während der durchschnittliche Mitteleuropäer denkt „Auf keinen Fall!“, scheint im Kopf des Sylt-Aficionados ein anderer Gedanke zu reifen: „Perfekt!“. Was folgt, ist ein fast rituelles Ankleideprozedere. Es gibt verschiedene Archetypen, die sich nun für ihre Expedition rüsten.
Strandwanderung im Sturm auf Sylt: Ausrüstungs-Profi
Da ist zum einen der „Ausrüstungs-Profi“. Gekleidet in Gore-Tex von Kopf bis Fuß, mit einer Funktionsjacke, die mehr Taschen hat als ein durchschnittlicher Kleinwagen, und Schuhen, mit denen man den Mount Everest besteigen könnte. Er nickt dem Wetter kurz und anerkennend zu, als würde er einen würdigen Sparringspartner begrüßen.
Srandwanderung im Sturm auf Sylt: Der sympathische Optimist
Sein Gegenstück ist der „sympathische Optimist“. Dieser Typ glaubt fest daran, dass seine modische, nur leicht wasserabweisende Jacke und ein herkömmlicher Regenschirm ausreichen werden. Der Kampf des Optimisten mit seinem Schirm ist oft der erste Akt des komödiantischen Schauspiels. Der Schirm, ein tapferes, aber hoffnungslos unterlegenes Stück Technik, durchläuft in wenigen Minuten mehrere Phasen des Versagens: Er klappt nach oben, er weigert sich, sich zu schließen, er dreht sich wie ein Kreisel und verabschiedet sich schließlich in Richtung Dänemark. Der Optimist steht kurz verdutzt da, zieht die Schultern hoch und stapft weiter, nun sichtlich nässer, aber um eine Erfahrung reicher.
Strandwanderung im Sturm auf Sylt: Der Hunde-Dompteur
Eine besondere Unterkategorie bildet der „Hunde-Dompteur“. Wobei an einem Sturmtag die Rollen oft vertauscht sind. Insbesondere kleine Hunde mit großer Abenteuerlust werden zu unfreiwilligen Drachen, die an der Leine zerren und deren Pfoten den Bodenkontakt nur noch sporadisch suchen. Der dazugehörige Mensch fungiert als Anker und Segel zugleich und vollführt eine beeindruckende Choreografie aus Ausfallschritten und Balanceakten, um nicht der Aerodynamik seines Vierbeiners zu folgen. Es ist ein Ballett des Absurden, das von allen Beteiligten – außer vielleicht vom Hund – ein Höchstmaß an Humor erfordert.
Der eigentliche Spaziergang ist eine Abfolge von komischen Herausforderungen. Die Fortbewegung an sich erinnert weniger an Gehen als an eine Art Schräglagen-Training. Der Körper ist permanent in einem 45-Grad-Winkel gegen den Wind geneigt. Versucht man, sich aufzurichten, wird man umgehend bestraft und macht ein paar unfreiwillige Schritte rückwärts. Gespräche sind kaum möglich, es sei denn, man brüllt sich gegenseitig ins Ohr, was meistens darin endet, dass einer der beiden eine volle Ladung salzigen Regen in den Mund bekommt. Jeder Versuch, ein Foto von der dramatischen See zu machen, endet mit einem Bild, das zu 80 Prozent aus dem eigenen Daumen und zu 20 Prozent aus einem grauen Schleier besteht, garniert mit ein paar Sandkörnern auf der Linse.
Nasse Füße als Belohnung der besonderen Art
Der Höhepunkt des Dramas ist oft die unerwartete Begegnung mit einer besonders enthusiastischen Welle. Während man vermeintlich in sicherer Entfernung an der Wasserkante entlanggeht, schickt die Nordsee einen Ausläufer, der mit diebischer Freude die Hosenbeine bis zu den Knien durchnässt. Der darauffolgende Schrei, eine Mischung aus Schock und schallendem Gelächter, ist ein fester Bestandteil der Geräuschkulisse am Sturmstrand.
Die Rückkehr dieser tapferen Abenteurer ist ebenso sehenswert wie ihr Aufbruch. Sie betreten das Café nicht, sie werden von einer letzten Windböe hineingeschoben. Ihre Erscheinung ist bedauernswert und glorreich zugleich. Die Haare stehen in alle Richtungen ab und scheinen eine eigene Geschichte vom Kampf mit dem Wind zu erzählen. Die Gesichter sind rot und glänzen, die Kleidung trieft. Aber in ihren Augen leuchtet ein unverkennbarer Triumph. Sie haben es getan. Sie haben dem Sturm ins Auge geblickt und lachen ihm nun aus der warmen Stube ins Gesicht. Der anschließende Genuss eines heißen Getränks wird zelebriert wie die Siegesfeier nach einer gewonnenen Weltmeisterschaft. Ein Blick auf die anderen zurückgekehrten „Überlebenden“ genügt – ein wissendes Nicken, ein breites Grinsen. Sie alle sind nun Teil einer verschworenen Gemeinschaft, die das Geheimnis des Sylter Sturms kennt: Es ist ein Heidenspaß.