Rund um die Insel
Das Sylt-Chiffre: Wie Künstliche Intelligenz eine 17 Jahre alte Botschaft aus dem Meer entkorkte

Ein stilles Souvenir aus der Nordsee
Die Hörnumer Odde, die südlichste Spitze der Insel Sylt, ist ein Ort des ständigen Wandels. Hier, wo Nordsee und Wattenmeer aufeinandertreffen, formen Gezeiten und Stürme unablässig die Landschaft, spülen Treibgut, Muscheln und die Geheimnisse des Ozeans an den Sandstrand.
Im Jahr 2018, während eines Spaziergangs an diesem dynamischen Küstenstreifen, machte Malte Bayer mit seiner Familie einen Fund, der zunächst nicht mehr als eine charmante Urlaubserinnerung zu sein schien. Es war eine kleine Glasflasche, angespült von der See, die ihre Neugier weckte. Für die Familie aus Lahr im Schwarzwald, die eine enge Verbindung zur Insel pflegt und mehrmals im Jahr dort zu Gast ist, war es ein besonderer Moment. Bei näherer Untersuchung offenbarte die Flasche eine bemerkenswerte Eigenschaft: Sie war mit einem Korken so fest und sorgfältig verschlossen, dass über all die Jahre auf See kein einziger Tropfen Salzwasser in ihr Inneres gedrungen war. Im Inneren befand sich, für alle sichtbar, ein zusammengerollter Brief. Die Aufregung wich jedoch schnell einer gewissen Ernüchterung. Der Inhalt, obwohl physisch unversehrt, war durch die Einwirkung von Zeit und Licht stark verwittert und verblasst, die Schrift kaum noch zu entziffern. Der Brief selbst war liebevoll mit kindlichen Zeichnungen von bunten Fischen, einem Seepferdchen, einem Boot und einem Rettungsring verziert – stumme, farbenfrohe Hinweise auf einen jungen Absender, die jedoch das eigentliche Rätsel nicht zu lösen vermochten.
Malte Bayer unternahm noch vor Ort erste Versuche, das Geheimnis zu lüften. Die Anstrengung war jedoch weitgehend vergeblich. “Ich habe damals schon Zeit damit verbracht herauszufinden, was dort steht, aber ich konnte nur ›England‹ lesen und eine Stadt”, erinnerte er sich später an die anfängliche Frustration. Mit diesen spärlichen Fragmenten war die Spur zu kalt, um sie weiterzuverfolgen. Die Flasche, deren Botschaft unlesbar blieb, wurde eingepackt und trat die Reise von der Nordseeküste in den Schwarzwald an. Dort fand sie einen neuen Platz, nicht als aktives Rätsel, sondern als passives Erinnerungsstück. In einem Korb, arrangiert mit Muscheln und anderem Treibholz von Sylt, wurde sie zu einem Teil der heimischen Dekoration – ein stiller Zeuge ihres eigenen, ungelüfteten Geheimnisses.
Sieben Jahre lang verharrte die Flasche in diesem Zustand. Diese Periode der Untätigkeit ist jedoch mehr als nur eine Zeitspanne; sie ist ein entscheidender erzählerischer Anker, der den technologischen Fortschritt der Welt außerhalb dieses Korbes misst. Was im Jahr 2018 für einen Privatmann mit herkömmlichen Mitteln ein unlösbares Problem darstellte, sollte sich bis 2025 in ein lösbares verwandeln. Diese sieben Jahre umspannen exakt jene Phase, in der leistungsstarke Künstliche Intelligenz, insbesondere generative Sprachmodelle (LLMs), von einem Nischenprodukt für Spezialisten zu einem allgemein zugänglichen Werkzeug wurde. Die Flaschenpost wurde so, ohne es zu wissen, zu einem perfekten, greifbaren Gleichnis für die Beschleunigung der KI-Revolution. Ihre Verwandlung von einem dekorativen Objekt zurück in ein datenreiches Artefakt spiegelt den Aufstieg der KI von einer unsichtbaren Hintergrundtechnologie zu einem proaktiven Werkzeug wider, das in der Lage ist, verborgene Informationen zu entschlüsseln und längst verstummte Geschichten wieder zum Leben zu erwecken.
Die Shz berichtete über den Fall. Mittlerweile gibt es dutzdene von Artikeln im Internet.
Der Schachzug des digitalen Archäologen
Jahre vergingen, und die Flaschenpost von Sylt drohte, endgültig in Vergessenheit zu geraten. Der Anstoß, das kalte Rätsel wieder aufzugreifen, kam unerwartet und aus dem engsten Familienkreis. Es war Bayers Ehefrau, die eines Tages den Blick auf das Souvenir richtete und eine besorgte Beobachtung machte. Sie bemerkte, dass der ohnehin schon verblasste Brief im Inneren der Flasche weiter an Farbe und Kontrast verlor. “Mensch, da liegt die Flaschenpost und der Brief ist völlig verblasst – den hätten wir konservieren sollen”, sagte sie. Diese beiläufige Bemerkung wirkte wie ein Zündfunke. Sie entfachte Malte Bayers Neugier und seinen Ehrgeiz aufs Neue.
Der Gedanke, ein so einzigartiges Objekt mit einer ungelüften Geschichte im Haus zu haben, ließ ihn nicht mehr los. Später fasste er seine Motivation in einem prägnanten Satz zusammen: “Angetrieben hat mich dabei, dass das Ding da liegt und eine Besonderheit ist und wir das nicht lesen können”. Es war die klassische Herausforderung des Unbekannten, die ihn nun, Jahre nach dem Fund, zu einem erneuten Anlauf bewegte. Doch diesmal verfügte er über gänzlich neue Werkzeuge. Als 56-jähriger Inhaber einer Marketing-Agentur war Malte Bayer beruflich tief in der digitalen Welt verwurzelt und hatte direkten Zugang zu den neuesten Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Er war in der einzigartigen Position, professionelle Technologie für eine zutiefst persönliche Mission einzusetzen.
Sein Vorgehen war kein einzelner Versuch, sondern ein methodischer, iterativer Prozess. Er nutzte, wie er berichtete, “drei bis vier verschiedene Tools”, um dem verblichenen Text sein Geheimnis zu entreißen. Während Programme wie ChatGPT bereits signifikante Teile des Inhalts rekonstruieren konnten, verwendete er weitere spezialisierte KI-Anwendungen, um die Ergebnisse zu verfeinern, Lücken zu füllen und die gewonnenen Informationen gegenzuprüfen. Dieser Ansatz war weniger ein magischer Knopfdruck als vielmehr ein Akt digitaler Handwerkskunst. Bayer agierte als menschlicher Experte, der eine Reihe von spezialisierten Werkzeugen lenkte. Seine berufliche Erfahrung im Marketing, einem Feld, das zunehmend auf eine Suite digitaler Analysewerkzeuge setzt, statt auf eine einzige Lösung, lieferte ihm die richtige Denkweise. Er verstand, dass verschiedene KI-Modelle unterschiedliche Stärken besitzen – einige in der Bildverbesserung, andere in der Texterkennung und wieder andere im kontextuellen Schließen von Lücken.
Die entscheidende Inspiration für diesen digitalen Ausgrabungsversuch kam ihm, als er sich daran erinnerte, dass KI-Systeme mittlerweile in der Lage sind, Aufgaben von enormer Komplexität zu bewältigen, wie etwa die Entzifferung antiker Hieroglyphen. Wenn eine KI die Schrift der Pharaonen lesen konnte, so seine Überlegung, dann musste sie auch mit den “verschwommenen und vergilbten Buchstaben” seiner eigenen kleinen Zeitkapsel fertig werden. Der Durchbruch kam während einer nächtlichen Sitzung, nur etwa zwei Wochen, bevor die Geschichte im September 2025 die Medien erreichte. “Das war nachts und das hat mich nicht mehr losgelassen – und dann kam plötzlich das Ergebnis”, beschrieb er den Moment des Triumphs.
Die Technologie, die dies ermöglichte, geht weit über die ältere optische Zeichenerkennung (OCR) hinaus. Moderne Large Language Models (LLMs) erkennen nicht nur einzelne Buchstaben, sondern verstehen Kontext. Sie können typische Strukturen wie Adressen oder Datumsformate identifizieren, fehlende Buchstaben auf der Grundlage von Sprachmustern und Wahrscheinlichkeiten ergänzen und sogar durch digitale Bildbearbeitung Kontraste im Ausgangsbild so verstärken, dass die Lesbarkeit für den Algorithmus verbessert wird. Bayers Erfolg ist somit ein Paradebeispiel für ein Modell der Zusammenarbeit von Mensch und Maschine, bei dem menschliche Neugier das Ziel vorgibt, menschliche Expertise den Prozess steuert und die KI die immense Rechenleistung zur Verfügung stellt, um ein Problem zu lösen, das für beide allein unlösbar geblieben wäre. Es widerlegt die gängige Vorstellung von KI als autonomem Problemlöser und zeigt stattdessen ihren wahren Wert als ein mächtiges Werkzeug zur Erweiterung menschlicher Fähigkeiten.
Eine Stimme aus dem Jahr 2007: Die Botschaft von Linda aus Reading
Die nächtliche digitale Detektivarbeit von Malte Bayer brachte nach 17 Jahren des Schweigens endlich Klarheit. Die KI-Analyse lieferte nicht nur Fragmente, sondern ein erstaunlich detailliertes Bild des Ursprungs der Flaschenpost. Die Algorithmen fügten die verblassten Buchstaben zu einem Namen, einem Datum und einem Ort zusammen und gaben der Botschaft eine Identität zurück.
Die Absenderin, so das Ergebnis, war ein junges Mädchen namens Linda. Das exakte Datum, an dem sie ihre Flasche der See anvertraute, konnte auf den
20. Oktober 2007 datiert werden. Diese Information warf ein neues Licht auf die Zeitachse der Reise: Die Flasche trieb fast genau elf Jahre durch die Nordsee, bevor sie 2018 am Strand von Sylt gefunden wurde. Ihr Inhalt blieb dann weitere sieben Jahre ein Geheimnis, was die Gesamtdauer von der Absendung bis zur Entzifferung auf rund 17 Jahre bringt. Am erstaunlichsten war jedoch die Präzision, mit der die KI eine vollständige Adresse rekonstruieren konnte:
5 Roslyn Crescent, Reading, England.
Die Fähigkeiten der eingesetzten KI-Systeme gingen jedoch weit über die reine Texterkennung hinaus. Sie führten eine vielschichtige Analyse durch, die weitere faszinierende Details zutage förderte und ein lebendigeres Bild der jungen Absenderin zeichnete:
- Graphologische Analyse: Durch die Untersuchung der Handschrift und die Erkennung “bestimmter Redewendungen” im Text schätzte die KI Lindas Alter zum Zeitpunkt des Verfassens auf 11 bis 16 Jahre. Dies passte perfekt zu den kindlichen Zeichnungen von Meereslebewesen, die den Brief schmückten.
- Ozeanografische Modellierung: Die KI berechnete zudem eine plausible Reiseroute der Flasche. Das wahrscheinlichste Szenario, so die Analyse, war, dass die Flasche entweder direkt an der englischen Küste ins Meer oder in die Themse geworfen wurde. Von dort wäre sie durch das Themse-Mündungsgebiet in die Nordsee getrieben und von den vorherrschenden Meeresströmungen über Hunderte von Kilometern bis an die deutsche Nordseeküste getragen worden, wo sie schließlich im Süden von Sylt anlandete.
Obwohl der vollständige Wortlaut der Nachricht von Linda nicht an die Öffentlichkeit gelangte, bilden diese zentralen Daten – Name, Datum und Adresse – das Herzstück ihrer Botschaft. Sie verwandeln ein anonymes Stück Treibgut in das persönliche Zeugnis eines bestimmten Moments im Leben eines jungen Menschen. Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Fakten des Falles zusammen und dient als klares, datengestütztes Fundament für die Geschichte.
Tabelle 1: Fallakte der Sylt-England-Flaschenpost | |
Datum des Fundes | 2018 |
Ort des Fundes | Hörnum, Sylt, Deutschland |
Finder | Malte Bayer und Familie (aus Lahr, Deutschland) |
Datum der Absendung | 20. Oktober 2007 |
Vergangene Zeit (Gesamt) | ca. 17 Jahre (11 auf See, 6 beim Finder) |
Name der Absenderin | Linda |
Ort der Absenderin (2007) | 5 Roslyn Crescent, Reading, England |
Geschätztes Alter der Absenderin (2007) | 11-16 Jahre (laut KI-Analyse) |
Entzifferungsmethode | Künstliche Intelligenz (mehrere Tools, inkl. ChatGPT) |
Datum der Entzifferung | September 2025 |
Aktueller Status | Absenderin “Linda” wurde noch nicht gefunden. |
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Das unvollendete Kapitel: Die Suche über den Kanal
Mit der erfolgreichen Entzifferung der Nachricht schien das Rätsel der Sylter Flaschenpost gelöst. Der technologische Triumph hatte einen Namen, ein Datum und eine Adresse aus der Vergangenheit zurückgeholt. Doch der Höhepunkt der digitalen Ermittlung markierte gleichzeitig den Beginn eines neuen, zutiefst menschlichen Rätsels. Der nächste Schritt, die Kontaktaufnahme mit Linda, schien eine reine Formsache zu sein. Die Realität erwies sich jedoch als weitaus komplizierter.
Als Malte Bayer die Adresse – 5 Roslyn Crescent in Reading, England – überprüfte, stieß er auf eine unerwartete Hürde. Das Haus war kein Wohnhaus mehr. An der angegebenen Adresse residiert heute eine Firma, die nach ersten Recherchen keinerlei Verbindung zu einer Familie hat, die dort im Jahr 2007 gelebt haben könnte. Die Spur, die die KI so brillant aus den verblassten Tintenresten extrahiert hatte, endete abrupt in der Gegenwart. Nach 17 Jahren hatten sich die Lebensumstände offensichtlich geändert; Menschen ziehen um, Häuser werden verkauft, Wohngegenden verändern ihren Charakter.
Dieser Moment verleiht der Geschichte eine neue, unerwartete Wendung. Die Befriedigung über die gelöste technische Herausforderung weicht der Erkenntnis, dass das eigentliche Ziel – die Verbindung zum Absender herzustellen – noch in weiter Ferne liegt. Es offenbart sich eine faszinierende Reibung zwischen der digitalen und der physischen Welt. Die KI konnte mit chirurgischer Präzision einen Datenpunkt aus der Vergangenheit rekonstruieren. Diese Information war jedoch nicht ausreichend, um die unordentlichen, analogen Veränderungen von fast zwei Jahrzehnten realen Lebens zu überbrücken. Die Technologie hat ein Problem des Informationsverfalls gelöst, aber nun steht die Familie vor einem Problem der menschlichen Verteilung.
Die Erzählung vollzieht damit einen vollständigen Bogen: Sie beginnt mit einem analogen Objekt (der Flasche), durchläuft eine digitale Phase der Analyse (die KI-Entzifferung) und muss nun in eine zweite analoge Phase eintreten, um zu einem Abschluss zu kommen – die der menschlichen Suche. Die Technologie hat eine Tür in die Vergangenheit aufgestoßen, aber ein Mensch muss nun hindurchgehen und die verbleibenden Schritte tun.
Malte Bayer hat diesen nächsten Schritt angenommen. Er hat öffentlich erklärt, dass seine Recherche zur “Familien-Flaschenpost” weitergeht und er fest entschlossen ist, Linda zu finden. Seine Rolle hat sich damit gewandelt: Vom passiven Finder und späteren digitalen Archäologen ist er zum aktiven Protagonisten im nächsten Kapitel der Geschichte geworden. Die Suche ist nun keine rein technische Aufgabe mehr, sondern erfordert klassische Recherchemethoden: öffentliche Aufrufe, die Nutzung sozialer Netzwerke, vielleicht sogar genealogische Nachforschungen in der Region Reading. Das unvollendete Ende der Geschichte ist somit kein Manko, sondern ihr neuer Motor, der die Erzählung von einem abgeschlossenen Fundbericht in eine andauernde, spannende Suche verwandelt.
Die Sylter Flasche im Strom der Geschichte
Der Fund von Malte Bayer ist mehr als nur eine kuriose Einzelgeschichte; er reiht sich ein in eine lange und faszinierende Tradition, die so alt ist wie die globalisierte Seefahrt selbst. Um die volle Bedeutung der Sylter Flaschenpost zu erfassen, muss man sie im Kontext der reichen Geschichte dieser einzigartigen Kommunikationsform betrachten, die zwischen wissenschaftlicher Methodik und romantischer Sehnsucht oszilliert.
Die systematische Nutzung der Flaschenpost begann nicht als Hilferuf von Schiffbrüchigen, sondern als ein Instrument der Wissenschaft. Im 19. Jahrhundert, als die Ozeanografie als moderne Disziplin entstand, suchten Forscher nach Wegen, die riesigen und mysteriösen Strömungssysteme der Weltmeere zu kartieren. Einer der Pioniere auf diesem Gebiet war der deutsche Geograf und Polarforscher Georg von Neumayer, der Leiter der Deutschen Seewarte in Hamburg. Ab 1864 initiierte er ein großangelegtes Experiment: Tausende von speziell angefertigten Flaschen, sogenannte “Stromflaschen”, wurden von den Kapitänen deutscher Handelsschiffe an genau dokumentierten Koordinaten über Bord geworfen. Jede Flasche enthielt ein Formular mit der Bitte an den Finder, es mit Fundort und -datum an die Seewarte zurückzusenden.
Das berühmteste und beeindruckendste Beispiel aus diesem wissenschaftlichen Programm ist die Flasche der deutschen Bark “Paula”. Sie wurde am 12. Juni 1886 im Indischen Ozean auf Anweisung von Neumayer ausgesetzt und erst im Januar 2018, nach fast 132 Jahren, an einem Strand in Westaustralien entdeckt. Dieser Fund wurde vom Guinness-Buch der Rekorde offiziell als die älteste je gefundene Flaschenpost anerkannt und dient als ultimativer Maßstab für die Langlebigkeit und den wissenschaftlichen Ursprung dieser Praxis.
Parallel zu dieser nüchternen, datengetriebenen Tradition entwickelte sich die Flaschenpost in der öffentlichen Vorstellung zu einem Symbol für Romantik, Hoffnung und menschliche Schicksale. Sie wurde zum literarischen Topos für Gestrandete, Verliebte und Menschen, die eine Botschaft ins Ungewisse senden wollten. Die Geschichte ist reich an solchen persönlichen Erzählungen, die ein Mosaik menschlicher Erfahrungen bilden:
- Botschaften der Liebe und des Lebens: Eine in Nordamerika losgeschickte Flasche enthielt eine Notiz von einem Paar während eines Tagesausflugs. Sie wurde 13 Jahre später in Irland gefunden. In der Zwischenzeit hatte das Paar geheiratet und drei Kinder bekommen.
- Zeugnisse aus der Vergangenheit: Ein Fischer zog 2014 in der Kieler Förde eine Flasche aus dem Wasser, die eine 101 Jahre alte Postkarte aus dem Jahr 1913 enthielt. 1999 wurde an der englischen Küste die letzte Nachricht eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg an seine Frau gefunden, die er kurz vor seinem Tod ins Meer geworfen hatte.
- Botschaften der Trauer: Eine besonders herzzerreißende Nachricht enthielt die Asche einer verstorbenen Mutter. Ihre Tochter hatte sie dem Meer übergeben, um ihr die Weltreise zu ermöglichen, die sie zu Lebzeiten nie antreten konnte.
- Einfache Verbindungen: Die Geschichte zweier englischer Geschwister, die 2023 jeweils eine Flasche in die Nordsee warfen. Die eine wurde sieben Monate später in Dänemark gefunden, die andere fast genau ein Jahr nach dem Start in Schweden – ein Beweis für die unvorhersehbaren Wege des Meeres.
Die Sylter Flaschenpost von Linda ist ein einzigartiges Artefakt, da sie diese beiden historischen Strömungen in sich vereint. Ihre physische Reise von der Themsemündung nach Sylt war ein direktes Ergebnis jener ozeanografischen Prinzipien, die Wissenschaftler wie Neumayer zu erforschen suchten. Die KI-gestützte Rekonstruktion ihrer Route ist eine moderne Fortsetzung dieser wissenschaftlichen Tradition. Gleichzeitig ist der Inhalt der Flasche – eine persönliche Nachricht eines jungen Mädchens, verziert mit Zeichnungen – ein reines Produkt der romantischen, emotionalen Tradition. In diesem Fund überlagern sich die beiden Narrative der Flaschenpost perfekt. Es entsteht ein faszinierender historischer Kreislauf: Eine wissenschaftliche Methode (das Aussetzen von Driftkörpern) wird für den persönlichen Ausdruck übernommen. Viele Jahre später wird ein modernes wissenschaftliches Werkzeug (Künstliche Intelligenz) verwendet, um dieses persönliche Artefakt zu entschlüsseln, und liefert dabei Daten, die den ursprünglichen wissenschaftlichen Zweck widerspiegeln – die Kartierung des Weges der Flasche durch das Meer.
Echos in einer Flasche: Reflexionen über Verbindung im digitalen Zeitalter
Die Geschichte der Sylter Flaschenpost hat in den Medien ein bemerkenswert breites Echo gefunden und die öffentliche Fantasie auf eine Weise beflügelt, wie es nur wenige Nachrichten vermögen. Ihre Anziehungskraft liegt in der Art und Weise, wie sie mehrere universelle Themen und archetypische Erzählungen zu einer einzigen, fesselnden Geschichte verwebt. Sie ist eine moderne Fabel, die tiefgreifende Fragen über Technologie, Zeit und menschliche Verbindung aufwirft.
Ein zentraler Aspekt ihrer Faszination ist der starke Kontrast zwischen dem Analogen und dem Digitalen. Die Flaschenpost selbst ist der Inbegriff einer langsamen, greifbaren und von Zufall geprägten Kommunikation. Sie steht für Geduld, Hoffnung und das Akzeptieren von Ungewissheit. Ihr gegenüber steht die Künstliche Intelligenz – ein Symbol für unmittelbare, abstrakte und datengesteuerte Präzision. Die Tatsache, dass das eine Werkzeug benutzt wurde, um das Geheimnis des anderen zu lüften, schafft eine kraftvolle und poetische Gegenüberstellung. In einer zunehmend digitalisierten Welt, die von sofortiger Kommunikation und ständiger Erreichbarkeit geprägt ist, weckt die Geschichte eine Nostalgie für eine langsamere, bedeutungsvollere Form des Austauschs und feiert gleichzeitig die Möglichkeiten moderner Technologie.
Darüber hinaus bietet die Geschichte eine seltene und willkommene positive Erzählung über Künstliche Intelligenz. In einem öffentlichen Diskurs, der oft von Ängsten vor den disruptiven Kräften der KI dominiert wird – von Arbeitsplatzverlust über Desinformation bis hin zu Überwachung –, präsentiert dieser Fall die Technologie als eine Kraft der Wiederherstellung und Verbindung. Die KI agiert hier nicht als Schöpfer einer synthetischen Zukunft, sondern als Restaurator eines authentischen Stücks menschlicher Vergangenheit. Sie löst ein liebenswertes Rätsel und bietet damit einen wohltuenden Kontrapunkt zu dystopischen Zukunftsvisionen.
Schließlich ist der ungelöste Schluss der Geschichte – die andauernde Suche nach Linda – ein entscheidender Faktor für ihre anhaltende Anziehungskraft. Ein abgeschlossenes Rätsel wäre eine befriedigende, aber vergängliche Nachricht. Eine andauernde Suche hingegen lädt zur Teilnahme ein, sei es durch Spekulation oder aktive Mithilfe. Sie verwandelt passive Leser in engagierte Beobachter, die auf eine Auflösung hoffen. Die mediale Berichterstattung spielt in diesem letzten Kapitel eine entscheidende Rolle. Sie ist nicht mehr nur Chronist vergangener Ereignisse, sondern zum wichtigsten Werkzeug für die Zukunft der Suche geworden. Jeder Artikel, jeder Bericht, der die Details von “Linda aus Reading” verbreitet, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Botschaft ihr endgültiges Ziel doch noch erreicht. Die Medien sind vom Beobachter zum Teilnehmer am Geschehen geworden.
Die Reise von Lindas Flasche ist somit noch nicht zu Ende. Ihr Wurf ins Wasser im Jahr 2007 war ein einfacher Akt der Hoffnung. Verstärkt durch die Neugier von Malte Bayer und die analytische Kraft der KI, ist diese Geste zu einer globalen Erzählung über die beständige menschliche Sehnsucht nach Verbindung über Zeit und Raum hinweg geworden. Sie erinnert daran, dass selbst die kleinste, ins Ungewisse gesendete Nachricht eines Tages eine Küste finden und auf eine Weise widerhallen kann, die sich der Absender niemals hätte vorstellen können. Die Suche geht weiter, nicht mehr nach der Bedeutung einer verblassten Notiz, sondern nach dem Menschen, der sie geschrieben hat.