Sylt News
Der Dezember auf Sylt oder die Karussellpferde aus dem Pony in Kampen
Der Dezember auf Sylt – Es scheint gestern gewesen zu sein, doch es ist Jahrzehnte her. Im Dezember, wenn die Tage trüber werden, neige ich dazu, über die Vergangenheit nachzudenken. Wie war es früher auf der Insel? Wie haben wir den Winter verbracht? So ganz ohne Gäste. Es war die Zeit, in der man tatsächlich alleine in der Friedrichstraße in einem Café saß und Tee trank. In der mittlerweile auch im November belebten Fußgängerzone sah man niemanden.
Stellt euch vor, ihr steht vor H.B. Jensen und schaut an einem Wochentag um 11:00 Uhr die Straße Richtung Strand hinauf und NIEMAND ist zu sehen. So war es tatsächlich. Eine Geisterstadt – es fehlten nur die runden Strohballen, die wie in alten Westernfilmen durch die Straßen getrieben werden. Die Kantine bei H.B. Jensen war bekannt für ihr leckeres Essen, und dort gingen sie hin, die Sylter. Es war das Verschnaufen nach einer damals noch kurzen Saison, mit anschließenden Ferien auf Mallorca oder Ibiza.
Doch was mir im Gedächtnis bleibt und mich für immer begleiten wird, sind die Tagebücher meines alten Herrn. Er war lange Zeit auf der Insel heimisch. Er spielte Fußball für den frisch gegründeten TSV Tinnum 66 und arbeitete für das Möbelhaus Skandia (so etwas wie IKEA – nur kleiner), zusammen mit Wolfgang Jörgensen, der die immer noch bestehende Drachenhöhle in Westerland führt. Eines der cooleren Geschäfte in der Innenstadt.
Doch meinem Vater ging es wie vielen Syltern. Er wollte auch mal über den Damm hinausblicken, arbeitete eine Zeit lang für die Plattenfirma E.M.I. und war dort sehr erfolgreich. Nach seiner sehr erfolgreichen Zeit im Ruhrpott und Reisen nach Südamerika, Asien und Europa zog es ihn zurück auf die Insel. Nach Kampen. Dort wurde er Hausmeister in den ikonischen Reetdachhäusern am Ende der Kurhausstraße in Kampen. Der Weg zu den Häusern führt zur Linken am Hotel Rungholt vorbei und zur Rechten begeistert der gleichzeitige Blick auf die Nordsee und das Wattenmeer.
Der Dezember auf Sylt – kühle Innenhöfe
Wenn ich ihn im Winter besuchte, saß er zumeist in seiner kleinen Hausmeisterwohnung und trank Mate-Tee, an dem er in Südamerika Gefallen gefunden hatte. Die Preise für die Appartements in den Häusern waren damals schon so hoch, dass es kaum realistische Einschätzungen dazu gab. Von mehreren Millionen ist die Rede. Für ein kleines Apartment wohlgemerkt. Die Häuser sind als Quader angelegt und haben einen unfreundlichen Innenhof, den ich im Winter so zugig in Erinnerung habe, dass man wohl – hält man sich 10 Minuten auf – direkt eine Lungenentzündung riskiert. Selbst im Sommer ist es dort kalt.
Lese ich mir die Tagebucheinträge durch, die er hinterlassen hat, fallen mir die absurdesten Geschichten ins Auge. Viel Persönliches – aber auch sehr viele Überraschungen. Die Geschichte mit den Karusselpferden, die im Podcast beschrieben wird – ist schon wirklich surreal. Kurzfassung – Millionär betrinkt sich – kauft Karusselpferde im Pony oder der Kupferkanne und lässt sich diese am nächsten Tag per Spedition anliefern. Wovon er nichts mehr weiß. Weil betrunken. Deshalb wird mein Vater beauftragt herauszufinden, wo diese herkommen. Oder die Gäste, die ihn mitten in der Nacht weckten, weil der Sturm die komplette Wohnzimmerscheibe eines Appartments durchs Wohnzimmer geschossen hat.Sagt der Gast. Mein Vater wies darauf hin, dass es bei Windstärke 11 keine gute Idee ist zu lüften.
All solche Dinge stehen in den Büchern, mal nur in Stichworten – mal ausführlich. So erfahre ich nach und nach vieles über die Insel und auch über ihn.
Mein Vater konnte nicht schwimmen, weshalb die gesamte Familie auch an den Wochenenden immer in die Blidselbucht fuhr. Damals konnte man dort noch parken. Wellen gab es da nicht. Und Wasser machte sich gefühlt auch rar. Wenn der kleine Alex mal ins Wasser ging, wurde er mit Argusaugen beobachtet. Das Wattenmeer ist nicht unbedingt der Ort, an dem man Badefreuden erlebt. In der Regel trat man garantiert in eine Muschel oder aber versank in irgendeinem Schlickloch. Doch das ist eine andere Geschichte.
Den lustigsten Eintrag fand ich im fünften oder sechsten Buch. Dort stand, dass mein Vater mit seinen Kumpels einen Ausflug mit unserem Katamaran machte. Reichlich Bier und Wurst gab es. Für mich als sechsjährigen Steppke war kein Platz auf dem Boot. Also sagte mein Vater zu mir: “Du bleibst jetzt hier am Strand stehen”, drückte mir Schaufel und Eimer in die Hand, und dann konnte ich nur noch dem Doppelrumpf-Segelboot hinterherschauen. Den Geruch von Lack und Brackwasser in dem Seelenverkäufer habe ich noch in der Nase. An den Tag erinnern kann ich mich nicht mehr. Als die Crew nach acht Stunden wieder anlegte, soll ich genauso dagestanden haben, wie sie mich verlassen hatten. Geduld hatte ich schon immer.
Lottogewinner war er. Und durch Südamerika ist er getrampt. Er verstarb auf seiner Lieblingsinsel. Auf Kuba. Die Tagebücher verbergen eine Menge Geschichten aus Kampen. Mal schauen, welche ich noch so finde. Der Winter ist ja lang im Norden…