Satire
Sylt – zwischen Wüstenleere und Menschenmassen: Die Wahrheit hinter dem Clickbait

Noch vor wenigen Tagen war laut “Bild.de”, “Moin.de” und “Der Westen” Sylt leerer als die Wüste Gobi. Die Insel: ein Ort, an dem sich Rehe auf der Suche nach Backfisch durch die menschenleeren Straßen wagten, während vereinzelte Touristen melancholisch am Strand ihre Tränen in den Sand schluchzten. Volleybälle wurden zu besten Freunden, bekamen Gesichter und Namen – Wilson lässt grüßen. Wer dachte, die Einsamkeit Tibets sei unerreichbar, wurde eines Besseren belehrt: Sylt im Winter, das soll Social Distancing auf nordfriesisch sein.
Doch heute wird die Katastrophe vermeldet: Die Insel ist voll. Menschenmassen, wohin das Auge blickt. Aus allen Richtungen strömen sie herbei, als gäbe es Freibier und gratis Wattwanderungen. Die Strände? Dicht gedrängt laufen die Gäste wie römische Kohorten in Gallien. Die Promenade? Ein einziger Stau aus Selfiesticks, E-Bikes und Sandalen. Wer jetzt noch einen Platz im Café ergattern will, muss entweder früh aufstehen oder Literaturwissenschaften studiert haben – letzteres scheint ohnehin Einstellungsvoraussetzung bei derartigen Onineportalen zu sein.
Denn die Onlineportale verstehen es, aus jeder Ebbe eine Flut zu machen. Clickbait ist hier kein Stilmittel, sondern Lebensphilosophie: „Sylt schafft sich ab – wer fährt eigentlich noch gerne auf die Insel?” gefolgt von “Sylt: Urlauber strömen in Massen an – die Empörung wächst! „Katastrophe“
Die Wahrheit? Sylt ist im Winter ruhig, im Frühling und Sommer voll, nach den Osterferien wieder leerer – und das jedes Jahr aufs Neue. Aber warum nüchtern berichten, wenn man auch literarisch übertreiben kann? Schließlich ist Clickbait die Kunst, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, und aus einem leeren Strand eine existenzielle Krise
Die Insel selbst nimmt es gelassen. Sie kennt das Spiel: Im Januar Einsamkeit, im Juli Überbevölkerung, im November wieder Stille. Die Sylt-Klassiker: erst Rehe, dann Rentner, dann Reisegruppen. Und mittendrin die Onlineportale, die aus jedem Wetterumschwung einen Weltuntergang und aus jedem vollen Strand eine Tragödie in fünf Akten schreibt – selbstverständlich mit Germanistik-Diplom.
Wer also demnächst wieder liest, dass Sylt entweder menschenleer oder hoffnungslos überlaufen ist, darf schmunzeln. Die Wahrheit liegt – wie so oft – irgendwo zwischen Clickbait und Küstennebel. Und spätestens nach den Osterferien hat die Wüste Gobi wieder Hochkonjunktur an der Nordsee.
Mein Lieblingsclickbait ist allerdings: “Sylt: Schietwetter, Einsamkeit, Langweile – 600 Inselbewohner brauchen dringend Hilfe” Hierbei handelt es allerdings nicht um Insulaner, die Winterdepressionen haben, sondern die Moin kommentiert die Suche nach einem Schäfer auf Sylt. So eine Idee nötigt dann doch Respekt ab.
Ich wage mich mal in die Vollkatastrophe, gehe zum Bäcker in Westerland und denke über ein Studium der Literaturwissenschaften nach.